Entgegen der Behauptung: Unternehmen sind keine Familie

Wenn wir lernen, sauber zu unterscheiden und jede Handlung passend einzuordnen, vermeiden wir unglaublich viele emotionale Spannungen. Denn unerfüllte Erwartungen werden vermieden.

Die, die im Job Anerkennung in Form von Liebe suchen, anstatt sich Wertschätzung für tatsächlich erbrachte Leistung zu erarbeiten, möchten schon ein Lob für ihre Anwesenheit und ihre guten Absichten. 

 

Für solche Menschen wird jedes negative Feedback zur Selbstwert-Nagelprobe. Denn sie verwechseln Feedback mit Lob. Jede sachliche Kritik wird als persönlicher Angriff gewertet, da sie sich in erster Linie eine reine Bestätigung als Mensch erhoffen (soziale Norm). Sie müssen sich klar machen, dass man ihren Wert als Mensch zwar nicht bestreitet, dass es hier, im Job, in erster Linie aber um etwas ganz anderes geht, nämlich um Ergebnisse für die Firma.

 

In Unternehmen werden durch das Signal „Wir sind eine große Familie“ (soziale Norm) falsche Erwartungen geschürt. Firmen sind weniger Anerkennungsorte für das reine „Menschsein“. Sie sind Wertschöpfungsfabriken durch erbrachten Nutzen bzw. Ergebnisse. Ein Unternehmen ist nicht dazu da, dass man sich „fallen lassen“ kann, sondern um für den Gegenwert Geld einen Nutzen zu liefern und zu leisten. 

 

Fallen lassen sollte ich mich primär in der sozialen Norm. Deswegen ist ein intaktes privates Umfeld auch so wichtig! Es gilt: Aufladen in der sozialen Norm, leisten in der Marktnorm. Ein starker Satz dazu stammt von Theodor W. Adorno, der sagte: „Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.“ Genau das ist Marktnorm eben nicht. Ein Lob für Bemühungen, Absichtserklärungen oder Selbstverständliches ist hier fehl am Platz. Viele Führungskräfte machen genau diesen Fehler, ihre Mitarbeiter für etwas zu loben, obwohl die Ergebnisse noch zu schwach sind. Zur Marktnorm gehört tendenziell eher Erfolg, zur sozialen Norm eher Erfüllung.

 

Wenn ich an meinem mangelnden Selbstwert (Wert meines Selbst) nicht arbeiten will, bleibt mir nichts anderes übrig, als andere für die fehlende Anerkennung meines Wertes verantwortlich zu machen. Schuld daran, dass ich mich wertlos fühle, sind dann der Partner, die Kinder, der Chef, die Kameraden, die mir vermeintlich meine Anerkennung und damit Wertschätzung verweigern. 

 

Und was tue ich, wenn sich mein Vorgesetzter „aus der Deckung wagt“ und die Wahrheit sagt, der ich mich selbst nicht stellen will: „Du machst einen vernünftigen Job, bist aber deswegen noch lange nicht herausragend.“ Dann reagiere ich empfindlich und werfe ihm mangelnde Wertschätzung vor.

Betrachten wir das Bild der verletzten Ehefrau, deren Mann den gemeinsamen Hochzeitstag vergisst: Hat sie ein stabiles Selbstwertgefühl und ist die Beziehung intakt, dann wird sie über die Zerstreutheit ihres Mannes am Hochzeitstag lächeln. Und sie bestellt an seiner statt einen Tisch im Restaurant und schenkt ihm eine Rose oder ein Schmuckstück. Ist ihr Selbstwertgefühl dagegen angeknackst, ist sie unzufrieden mit sich und ihrer Situation, dann trifft es sie hart, dass ihr Ehemann an diesem besonderen Tag nicht daran denkt, sie mit einer Aufmerksamkeit aufzuwerten, um ihren fehlenden Selbstwert zu kompensieren.

 

Ihr stillschweigender Auftrag an ihn lautet: Gib mir Wert! Her mit dem Ring – ich brauche eine Bestätigung, dass ich dir wichtig bin! Sie erwartet, dass er ihr das gibt, was ihr selbst fehlt. So lebt sie in dem unerfüllbaren Anspruch an ihren Mann: Mach mich glücklich! Dabei ist es eben genau dieser Anspruch, der direkt ins Unglück führt und so viele Beziehungen scheitern lässt.

 

Boris Grundl

 

www.borisgrundl.de